Wie riecht Big Sur? Wie wandert das Aroma eines Gletschers in den Flakon? Aus der Beantwortung dieser Fragen hat der Amerikaner Hall Newbegin ein einzigartiges Parfüm-Konzept geformt. Für die Suche nach neuen Noten nimmt er jedes Abenteuer auf sich
Text: Matthias Luckwaldt
Wie leuchtende Pfeile bohren sich erste Sonnenstrahlen durch den dichten Morgennebel, der das Camp am Fuße des imposanten Mount Hood umwabert. So als wolle die Natur betasten, wer hier so tapfer ihren Gefahren trotzt. Mit 120 Stundenkilometern hatte der Wind das Grüppchen am Vortag von der Strecke zu wehen versucht. Vergeblich. Zwar riss es ein einige trotz schwerer Wanderstiefel zu Boden. Doch auch nach über 50 Kilometern querfeldein – von Cloud Cap an der Ostseite bis nach Timberline im Westen höchsten Bergs von Oregon – boten Wildnis-Parfümeur Hall Newbegin und seine Mitstreiter dem rauen Terrain die Stirn.
Nicht weit von ihren Zelten, rund um den Mirror Lake, wurde „The Shining“ gedreht. So what. Newbegin und friends lassen sich weder von Horrorstorys ins Bockshorn jagen, noch suchen sie hier draußen das Adrenalin aufpeitschenden thrill. Nein, diese 20 Outdoor-Enthusiasten sind aus Oakland bei San Francisco angereist, um die Düfte der nächsten Saison zu kochen. Für Juniper Ridge, die derzeit wohl originellste Parfümmarke für Backpacker.
Den ganzen Tag über halten der 47-jährige Hall Newbegin und seine wagemutige Crew ihre Nasen in die frische Luft des Pacific Crest Trail, der von Mexiko bis nach Kanada führt. Sie schnüffeln an Wildblumen, reiben grüne Blätter und Kiefernnadeln zwischen den Fingern, greifen in den feuchten Waldboden. Und nehmen von allem, was sie begeistert, etwas mit. Jeder Trip beginnt mit einer groben Liste passender Zutaten, die den Duft zur Hommage an Region und Saison machen könnten. Meist weicht, was sie dann in Tüten und Körbe packen, davon ab. Die Natur lässt sich ungern in Tabellen bannen.
Am Ende des Erntetages entlocken die modernen Alchemisten ihren Funden am Lagerfeuer dann die Aromen. Mit Kesseln heißem Wasser und einer Batterie von Destillationskolben, in denen sich Dampf und Duftstoffe sammeln. „Field Lab“ heißen dieser Produktionsschritt und die limitierte Serie, die daraus entsteht. Maximal 186 Flakons, handnummeriert und bei Fans begehrt wie ein Jahrgangschampagner. „Timberline Trail“ wird das fertige Parfüm dieser Expedition heißen, mit Noten von Gebirgstanne, Kiefern und herbstlichen Beeren.
„Für das, was wir da machen, haben wir selbst das Handbuch geschrieben“, sagt Newbegin. Rocket science, hochkompliziert, sei das alles nicht. Nur in Vergessenheit geraten und für die globale Beauty-Industrie zu aufwändig, zu teuer und kaum „skalierbar“. Die Dampfdestillation beispielsweise beschrieb schon Aristoteles, circa 400 vor Christus. Auch Presse und Mixer kommen je nach Blüte oder Frucht zum Einsatz, sensiblen Pflänzchen entzieht Fett in einer Plastiktüte ihren Duft. Wie Butter, die den Kühlschrankgeruch annimmt. Und am Schluss macht Alkohol die Kreation halt- und aufsprühbar.
„Wir“, das sind bei Juniper Ridge unter anderen: Obi Kaufmann, Künstler und Chief Story Teller, der on tour oft Zeichenblock und Wasserfarben auspackt. Aus seinen Bildern entsteht das Verpackungsdesign. Tom Accetooa, Chemiker, und mit Hall und Obi der dritte bärtige Wildnis-Parfumeur im Bunde. Der 2-Meter- Mann räumt auch Baumstämme aus dem Weg, wenn’s sein muss. Und Leslie Smith, die Wildcrafting-Managerin. Sie steht mit vielen Nationalparks in engem Kontakt, holt Infos und Genehmigungen zum Blüten- und Kräutersammeln ein. Newbegins Frau bleibt „dank“ Knieproblemen daheim, seine 9-jährige Tochter zeltet gelegentlich mit. Das Kernteam braust in einem gepimpten Ford E150 Econoline von 1988 umher. Der Vorbesitzer, ein Aufmotz-Guru, musste den Van wegen Familienzuwachs verkaufen.
„Wir haben als Kinder oft Camping-Urlaub gemacht“, erzählt Hall Newbegin. „Außergewöhnlich fand ich Natur damals nicht, sie war einfach da. Fertig.“ Nur zu Mount Hood (verewigt in dem Cologne „Cascade Glacier“) und Mount Rainier baute er damals eine fast spirituelle Beziehung auf. Zu diesen Bergen habe er aufgeschaut wie zu Göttern. Der Sohn konservativer Eltern – „Beide wählen Republikaner, wir vier Kinder die Demokraten“ – erbte den Geschäftsinn vom Vater, der Landwirtschaftsbedarf verkaufte. Doch die gutbürgerliche Vorort-Idylle in Portland engte ihn ein. „Ich wollte Punk Rock und das Abenteuer Großstadt wagen.“ Also ging er zum Studium nach New York, tauschte den Geruch von Gischt und Pilzen gegen Bücher über Heidegger und Hegel. But home is, where the heart is. Und Newbegins Herz, das lernt er im Trubel der atemlosen Metropole, hängt an der majestätischen, harschen Szenerie der Pazifikküste.
Mit 23 zog er nach San Francisco, spielte in der Indie-Rock- Band „The Sweet Things“ und verbrachte die Wochenenden im Freien. Newbegin las die Bücher des frühen Umweltschutz-Pioniers John Muir und anderer amerikanischer Entdecker, verschlang botanische Fachliteratur zu essbaren Pflanzen: „Ich bin vorher auf ein sauteures College gegangen. Jetzt lernte ich for free endlich das, was ich wissen wollte.“ An Parfüms dachte Newbegin keine Sekunde. „Ich hasste Parfüms“, sagt er rückblickend. Eau de Parfum, das klang nach den Cocktailpartys der Eltern, nach neureichen Nachbarn und reichlich „bullshit“. Vier Jahre hielt er sich mit Musik, Aushilfsjobs und Selbststudium über Wasser. Dann stieg er komplett aus, zog für acht Monate auf einen buddhistischen Bio-Bauernhof und besuchte Kurse in Kräutermedizin.
Nach seiner Rückkehr fuhr er in einem alten Truck zum Big Sur und experimentierte mit den Blüten der Gegend. Er legte sie in Olivenöl ein, machte Seifen daraus und verkaufte sie auf Öko-Wochenmärkten für zehn Dollar an College-Kids. Ohne Businessplan, einzig um sich den nächsten Ausflug in die Wildnis zu finanzieren.
Heute, 17 Jahre später, verkauft Juniper Ridge verschiedene „Backpacker Colognes“, spezielle Ernte-Editionen, Bartöl, Duschbäder, Tee und Raumsprays. Und zwar nicht mehr auf Farmer’s Markets, sondern an treue Kunden in 15 Ländern. Vor allem in Skandinavien rollt die Krone. Düfte als Hommage an faszinierende Locations wie die Sierra Nevada („Sierra Granite“) oder „Big Sur“, warum ist darauf früher niemand gekommen?
Trotz wachsendem Erfolg ist und bleibt Hall Newbegins wildes Parfümhaus ein echtes Spaßprojekt – für ihn wie sein Team. Offen für neue Eindrücke müssten neue Mitarbeiter sein. Naturverbunden, klar. Achtsam und präsent. Und dann könnte der Job zum Traum werden. Wer geht schließlich mit seinem Boss auf Wandertour und hört ihm abends am Lagerfeuer beim Ukulelespiel zu? Röstet gemeinsam Marshmallows, prostet sich mit Bourbon zu und teilt den einen oder anderen Joint? „Wäre Juniper Ridge nur ein profitorientiertes Business – wir würden wie effiziente Roboter durch die Landschaft marschieren. Aber so vieles verpassen!“, resümiert Newbegin seine Philosophie.
Aktuell folgen er und sein Team wieder der Wildblumenblüte, wandern durch die Mojave-Wüste in der Nähe von Las Vegas. Bis September wollen die Juniper Ridge’ler mit kleinen Unterbrechungen die gesamte kalifornische Küste und die Sierra Nevada bis hoch nach Washington State erkunden. Ein Kameramann wird sie für einen Dokumentarfilm dabei begleiten. „Als ich mit dem Business anfing, wollte ich eigentlich nur dafür bezahlt werden, draußen zu sein“, sagt Newbegin zum Abschied. „Und jetzt passiert es genau so.“ Gut Pfad!
Dieser Artikel erschien erstmals 2015 im Magazin Manual.
Fotos: Juniper Ridge